»Die Realität ist enttäuschend«
Die westliche Gesellschaft erlebt momentan einen der wohl bedeutendsten
Paradigmenwechsel ihrer Sozial- und Kulturgeschichte - eine Abkehr
vom analogen und verbalen Weltbild zugunsten einer digitalen und
visuellen Kultur. In Bezug auf die Kunst hat diese Entwicklung weitreichende
Folgen. Die seit der Renaissance verbürgten Differenzkategorien
von Realität und Fiktion, von objektiver Wahrheit und subjektiver
Mimesis werden mit einem Mal obsolet. Dies weil die heutigen Betrachter
vor dem Hintergrund der rasanten massenmedialen Produktion von Visuellem
ein komplett neues Bild- und Wahrnehmungsbewusstsein entwickelt
haben, das sich um die herkömmlichen Bewertungen des Künstlerischen
und Künstlichen foutiert. Kurz: das Bild existiert, es ist
Simulakrum und Realität zugleich.
Anatolij Shuravlev (1963, Moskau), in Berlin lebender gebürtiger
Russe (*1963), thematisiert in seiner Arbeit exakt diese Verwischung
der Grenzen im künstlerischen wie im massenmedialen Kontext.
Ursprünglich operierte Shuravlev im Kontext des russischen
Konzeptualismus, reflektierte mit seinen Gemälden semantische
und semiotische Fragestellungen, verdichtete etwa das gesamte kyrillische
Alphabeth auf einem einzigen Bild oder verwandelte den bis ins letzte
Detail geregelten sprachlichen Duktus der klassischen Dichtung zu
einer anarchischen »Buchstabensuppe«. 1991 wechselte
Shuravlev zwar das Medium, stellte die Fotografie in den Dienst
seiner Kunst, reflektierte aber weiterhin die Bedingungen und Bedingtheiten
unserer Kommunikationsstrukturen.
Das Bild zeigt nicht exakt das, was wir auf den ersten Blick zu
sehen glauben.
Dieses hintergründige Spiel mit medialen und unmittelbaren
Realitäten beherrscht Shuravlev wohl auch deshalb perfekt,
weil er im Umgang mit der reproduzierten Welt als Sowjetkünstler
besonders geübt ist. Vor 1989, im Zeitalter des Eisernen Vorhanges,
präsentierte sich der grösste Teil des irdischen Kosmos
für den russischen Bürger vornehmlich als mediales Konstrukt
- die Pyramiden von Gizeh, die Renaissance-Meister im Vatikan oder
die Meisterwerke im Louvre waren für die sowjetischen Kunstliebhaber
nur via Bücher, Fernsehen oder schlechte Fotokopien zugänglich.
Die persönliche Vorstellungswelt ersetzte quasi das Erleben
vor dem Original. Was Wunder meint der damalige Medienreisende Shuravlev
heute, dass die unmittelbare Realität, das Momentum der direkten
Begegnung mit dem »Original« für ihn oft »enttäuschend«
verlaufen sei, dass er die mediale Imagination der Unmittelbarkeit
vorziehe.
Also bleibt er lieber in seinem Berliner Atelier und reist mittels
Reproduktionen, konstruiert sozusagen seine eigenen medialen Realitäten.
In seinen neuen Arbeiten zeigt Shuravlev hunderte von Miniatur-Porträtfotografien,
die er aus dem massenmedialen Fluss von Film und Fernsehen herausgelöst
hat. Wir erkennen beispielsweise Jack Nicholson (aus »Shining«
und »Einer flog über das Kuckucksnest«) oder Charlton
Heston (aus »Ben Hur«) auf den kaum fingernagelgrossen
Fotos, die sich entweder als lineare Reihung oder als chaotische
Auslegeordung an der Wand präsentieren - der Künstler
hat die Gesichter der Filmstars direkt vom Fernsehmonitor fotografiert,
aus dem erzählerischen Kontext gelöst und die Wahrnehmung
auf die Mimik der Protagonisten fokussiert. Wie bei allen vorherigen
fotografischen Arbeiten, so benutzt Shuravlev auch in der aktuellen
Serie ausschliesslich Schwarz-Weiss-Fotografie, die entweder mit
einem braunen oder einem blauen Filter getönt wurden. Die Welt
im »Pantoffelkino« - Shuravlev hat während drei
Monaten nichts anderes getan, als Fernsehen geschaut - avanciert
dermassen authentisiert zum Realitätsersatz, ein Tatbestand,
der nicht nur dieser spezifischen Künstlerbiografie, sondern
allen medial vernetzten Menschen eigen ist.
Indem Shuravlev genau jene uns allen vertrauten medialen Bilder
neu kontextualisiert, stellt er einerseits die noch immer praktizierte
Unterscheidung von Medium und Realität zur Disposition und
verkörpert anderseits einen neuen Rezipiententypus: den Menschen,
der in der Hyperrealität lebt, für den die Begrifflichkeit
des Simulakrums und der Simulation zum Alltagsgut geworden sind,
den Menschen also, für den es keine Rolle mehr spielt, ob er
seine Erfahrungen aus Soap operas oder aus eigenen Erlebnissen bezieht.
(Christoph Doswald )
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