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Alfredo Jaar: 1973

curated by Jon Bird

GALERIE HUBERT WINTER
 13.09. - 31.10.2019

Vernissage: am Donnerstag, dem 12. September 2019, um 18:00 Uhr
17:30 Uhr: Vom Künstler geführte Tour mit anschließendem Q&A

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Alfredo Jaar. Cien Años de Soledad [No realmente]. 1985.

ALFREDO JAAR: Für eine Kultur des Widerstands
 
Alfredo Jaar, der Film und Architektur in Santiago studierte, erfuhr während der Militärjunta Pinochets die rauen Bedingungen künstlerischen Schaffens im Schatten von Repression, Zensur und Ungerechtigkeit. Von Beginn an wurde seine Ästhetik durch eine Politik des Widerstands und der Notwendigkeit des speak truth to power geprägt. Seine visuelle Sprache involviert die Betrachter*innen und lenkt ihren Blick auf die Widersprüchlichkeiten, welche der diskursiven Gleichschaltung des Totalitarismus unterliegen. Jaar arbeitete mit einer Vielzahl an Medien und Materialien – Photographie, Film/Video, Installation und Performance – stellt aber vor allem zwei Parameter für seine künstlerische Praxis in den Vordergrund: die Signifikanz des Ortes und der Lage im Zusammenhang mit der Architektur und das In-Szene-Setzen des Films. Diese Aspekte verbindet er mit der sozio-politischen Ausrichtung lateinamerikanischer Konzeptkunst in den 1970ern.
 
Im ständigen Bewusstsein der Tendenz des Bildes, dem Realen zu entgleiten, verwendet Jaar Text und Kontext um Arbeiten zu schaffen, die aus dem visuellen Informationsüberschuss – seien es Banalitäten des alltäglichen Lebens oder Spektakel der Grausamkeit – ein Bild oder ein Wort auswählen welches unsere Aufmerksamkeit erfasst, das Individuum aus der Masse hervorhebt und ein anderes Regime der Sichtbarkeit etabliert.
 
Jaars Ästhetik des Widerstands fand ihre bis dahin umfassendste Realisierung als er Chile verließ, in die USA emigrierte und dort, in der selbstbezogenen Kunstwelt New Yorks, als Künstler im Exil agierte. Dieser Zustand des unvermeidlichen „Außenseiter-Daseins“ hat ihn dazu getrieben, weltweit als kritischer Beobachter und Befrager ungleicher Beziehungen dominanter und subalterner sozialer Systeme zu reisen und die Flüsse an Information, Material und Menschen innerhalb von Kontinenten und Ozeane und über diese hinweg zu verfolgen. Solche globalen Bewegungsmuster sind Indikatoren für Vertreibung, wirtschaftliche Machenschaften, Marktkräfte und politische Ideologien – zusammengefasst, all jene Faktoren, die Individuen ihrer Rechte, Freiheiten, Identitäten, Gleichheiten und Gerechtigkeit berauben, alles zugunsten des Strebens nach Profit und Macht. Alfredo Jaar produzierte Arbeiten als Reaktion auf Geschehnisse in Ruanda, Hong Kong, Angola, Kanada, Brasilien, Deutschland, Venezuela, London, Japan, Schweden – die Liste lässt sich fortführen –, eine Geografie der Ausbeutung und Viktimisierung. Trotz alledem sind die Arbeiten nicht bloß Zeugnis einer dystopischen Welt, viel eher schafft Jaar Counternarratives (Gegenerzählungen) wider die Retusche der Geschichtsschreibung und verficht die Notwendigkeit einer Rolle für kritische, künstlerische Praxis in der Bedeutungsproduktion gibt – eine andere Art zu erzählen, das Unsichtbare sichtbar zu machen.
 
Diese Ausstellung legt ihren Fokus auf Arbeiten, die zwischen 1974 und 1987 entstanden sind – Blaupausen für Jaars späteres Schaffen – zum Großteil in Chile oder den frühen Jahren in New York konzipiert und ausgeführt. Zu einem Zeitpunkt des drohenden Wiedereintritts des Faschismus in die politischen Sphären Europas und ganz Amerikas; zu einem Zeitpunkt, an dem eine Migrationsbewegung, zusammengesetzt aus Unterdrückten und Vertriebenen, an den Küsten unbekannter und abweisender Territorien strandet, erschien es zeitgemäß, auf Arbeiten zu blicken, die in einer früheren Periode politischer und kultureller Unsicherheit entstanden sind.
 
Jon Bird
Juni, 2019