Einführung:
Prof. Elisabeth von Samsonow, Akademie der bildenden
Künste Wien 19.30 Uhr
Kunst Stoff
Wesshalb die textilen Künste vorauszuschicken sind. (Gottfried
Semper)
Eine zeitgenössische Bestimmung des Verhältnisses zwischen
dem Textilen und der bildenden Kunst kann sich auf Gottfried Sempers
drastische These beziehen, die besagt, dass das Textile die einzige
wirklich kreative Kunstform sei, von welcher sich alle anderen
Künste in einer unendlichen Reihe mimetischer Überbietungsversuche
herleiten lassen müssen - auch wenn es hier bestimmt nicht
um eine einfache Bestätigung der Behauptung geht, sondern
vielmehr um Wirkungen, Anregungen, Interferenzen und Zitate, die
die zeitgenössische Kunst ihrerseits zur Untersuchung und
zum Einsatz des Stofflichen bringt. Die Geschichte des künstlerischen
Stoff-Fetischismus lässt sich in einer Vielzahl von Linien
verfolgen, von denen vor allem zwei - nämlich diejenige, die
sich von der visuellen Gestaltung des Textils in Bann schlagen
ließ, und zum zweiten die in ihm einen Hautersatz oder ein
Körper-Äquivalent erblickt - Relevanz für die Moderne
und die Postmoderne besitzen. Was die Visualität des Textilen betrifft, so baut sie sich
aus seiner Textur selbst auf, ist insofern identisch mit ihrem
Gewirk, das aus einer gewissen Kreuzung chromatischer Fäden
besteht. Diese Fadenkreuze, in ihrer Evokation eines kryptischen
universalen Skripts, erwiesen sich sowieso als Minimum jeglicher
Organisation, die als Determinante Komplexität hat. Mit solchen
Fadenkreuzen ließen sich die offenen Räume zu euklidischen
und geographischen umgestalten, was bedeutet, dass sie generative,
sich über sie hinaus erstreckende Potenzen haben, die die "abstrakten" Maler,
nach dem Ausbleichen des Tafelbildes, wie hypnotisiert starren.
Die Neigungen und Knotungen der Fadenverläufe im Textil nehmen
einmal alles vorweg, was es an Interpretation des Räumlichen
in der Zweidimensionalität geben kann.
Während also die einen sich um die Befreiung der flirrenden
visuellen Botschaft aus dem Medium des Angewandten bemühen
und Logik der Textur in einem Verfahren, das Semper als Stoffwechsel
bezeichnet hätte, in den Kanon der Künste übersetzen
(rekonstruieren), sehen die anderen im Textilen, im Stoff sofort
seine Eignung zur organischen Erweiterung des Körpers selbst:
aus dem Binom Körper/Kleid wird ein Kapital geschlagen, das
sich wie nichts sonst zu Gunsten eines erweiterten Körperwissens
einsetzen lässt. Hier ist der Stoffwechsel tatsächlich
der zwischen "weichen", einander ähnlichen Texturen,
dem (Binde)Gewebe des Körpers und seiner artifiziellen Spiegelung
in seinen Nahräumen, in den Hüllen, in den Polsterungen
von konkaven und konvexen Körpern und im Geflecht. Man sieht
neuerdings sogar junge Künstler zum Nähzeug greifen,
womit sie den Parcours durch die performativen Stadien als Körperkunst
auf verblüffende Weise abkürzen. Das genähte, gewirkte
und gestrickte Zeug bringt die Linie als erfahrenen, magischen "roten" Faden
ins Spiel und appelliert an die Ur-Investitur (Verkörperung)
durch das paranoide Rearrangement von Nähten im Gewand. Die Ausstellung ist ein Versuch, die Spannungen in einem triangulären
Verhältnis zwischen dem Textil, der visuellen und konstruktiven
Logik der Bilder und dem sensiblen Nahraum des Körpers in
einer mise-en-scène zwischen zeitgenössischen und tradierten
kulturellen Positionen neu zu erfassen.
Elisabeth von Samsonow
KünstlerInnen: GHADA AMER, POLLY APFELBAUM, SABINE BOEHL,
ALIGHIERO BOETTI, LOUISE BOURGEOIS, GUDRUN KAMPL, KIM SOOJA, CLAES
OLDENBURG/COOSJE VAN BRUGGEN, FÜSUN ONUR, TAL R, JESSICA STOCKHOLDER,
ROSEMARIE TROCKEL, COSIMA VON BONIN
Traditionelle Textilien: IKAT, INDONESIEN; KAITAG, DAGHESTAN;
NAVAJO-DECKE, NEW MEXICO; QUILT, PENNSYLVANIA; SUZANI, USBEKISTAN;
U. A.
SABINE BOEHL, geb. 1974 in Darmstadt, lebt in Düsseldorf. "Die
eigene Intention liegt in einer Verwebung von Bildzeichen in Form
von farbigen Glasperlen, monochrom mit Nagelack bestrichenen Farbtafeln,
einzelnen Plexiglasmodulen. Das formale Bestreben liegt gleichermaßen
begründet in der Auseinandersetzung mit den antiken Mosaiken,
pompejanischen Wandmalereien, den Dekorationen des Domus Aurea
von Nero in Rom, den grotesken Ornamenten Raffaels wie mit ornamentalen
Strukturen." (2003)
ALIGHIERO BOETTI, geb. 1940 in Turin, gest. 1994 in Rom, Italien. "Ich
beschäftige mich jetzt mit afghanischen Arazzi, so wie Tamerlango,
Attila, Djingis Chan, Khubilai Chan sie unter den Sattel legten,
um ihre kleinen tartarischen Pferde zu reiten. Es sind über
und über farbige Arazzi, voller Buchstaben." (1982)
LOUISE BOURGEOIS, geb. 1911 in Paris, lebt in New York. "Als
sei Stoff eine Epidermis eigenen Rechts, verwendet Louise Bourgeois überwiegend
eigene Kleidungsstücke zur Herstellung ihrer Stelen und Figuren.
Als würden durch die konkrete physische Ausdehnung eines Körpers,
verstärkt durch Material und Muster, Gefühle und Ängste
regelrecht messbar, wird Stoff zu einer Art "zweiten Haut",
mit der sich umgehen lässt. Haut als Grenze zur Welt erscheint
dichotomisch zugleich als Schutz und Verletzbarkeit."
(Marianne
Harms-Nicolai, Galerie Karsten Greve, 2003)
GUDRUN KAMPL, geb. 1964 in Klagenfurt, lebt in Wien. "Das
Gewand erscheint uns im Moment seines Gebrauchs als etwas Individuelles,
Eigenes, Persönliches und gilt auch als authentischer Beleg
für den Körper, weil er dessen Berührung bezeugt.
Die zahlreichen, heiligen Gewänder' zählen zu den verbreitetsten
Berührungsreliquien."
KIM SOOJA, geb. 1957 in Taegu, Korea, lebt in New York. "Die
Koreaner haben einen ganz anderen Bezug zu diesen Bettlaken wie
auch zu den ihren Kleidern als die westlichen Menschen. Sie glauben,
dass der Geist der Person, die die Kleider getragen hat, darin
lebt. In Korea ist es absolut unüblich, gebrachte Kleider
von jemand anderem zu tragen. Secondhand-Geschäfte sind uns
fremd." (2002)
CLAES OLDENBURG, geb. 1929 in Stockholm, lebt in New York, seit
1976 Zusammenarbeit mit COOSJE VAN BRUGGEN, geb. 1942 in Groningen,
Niederlande, lebt in New York. "The main reason for making
a soft version of a known hard object may be (I think more and
more it is) to dramatize or isolate the condition of softness.
And other conditions such as the response to 'gravity' - this condition
under which objects appear to exist, and we as objects, as matter,
appear to exist." (1969)
FÜSUN ONUR, geb. 1938 in Istanbul, lebt in Istanbul. "I
use textile, tulle representing light textile. I like its transparency,
its sort of hiding but half-showing fragility, whirling, twisting,
its folding, curling. I think its roots go back to my childhood,
the organza- dress I wore at the age of 5. The handkerchiefs with
lace, embroidery I was given of festival days." (2004)
ROSEMARIE TROCKEL, geb. 1952 in Schwerte, Deutschland, lebt in
Köln. "Die Frage etwa interessiert mich, warum früher
oft Ausstellungen von Künstlerinnen schlecht waren, warum
sie Materialien nehmen aus Heim- und Herdbereich usw. Deshalb das
typische und sehr belastende Material: Wolle. Ich will wissen,
ob das negative Klischee überwunden werden kann, wenn der
handwerkliche Aspekt aus dem ganzen Komplex herausfällt, wenn
das Strickmuster vom Computer gesteuert entsteht." (1988) |
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