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Otto Zitko


GALERIE GÖLLES
  27.09. - 07.11.2015

 

Vernissage: am Samstag, dem 26. September 2015, um 17:00 Uhr
Zur Eröffnung spricht Roman Grabner, Universalmuseum Joanneum Graz

 

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Otto Zitko, o.T., 2012, Acryllack Aluminium, 218 x 199 cm, Foto Rainer Iglar, Salzburg

Otto Zitko – Die unendliche Linie

Otto Zitko zählt sicherlich zu den markantesten Positionen der österreichischen Gegenwartskunst. Ausgehend von den malerischen Entwicklungen der Nachkriegsavantgarde mit ihrer offenkundigen Wurzeln in der Moderne entwickelt er Versuchsanordnungen, die Linien, Farben und Räume in einen Zustand vibrierender Spannung versetzen. Zitko arbeitet in der Tradition informeller Kunst, wobei er deren Zeichen- und Formsetzungen nicht im Sinne postmoderner Praktiken zitiert, sondern deren Überlegungen als Ausgangspunkt für eigenen Lösungsansätze verwendet, die Ideen der Nachkriegsavantgarde gewissermaßen weiterführend. Er hat vor mehr als zwei Jahrzehnten einen Punkt gesetzt, diesen zur Linie erweitert und führt diese seither mit persevierender Verve und Konstanz fort. Sein bisheriges Oeuvre zeigt eine kontinuierliche Erweiterung des Werkes von kleinen Arbeiten auf Papier zu großformatigen Tafeln und schließlich zu ganzen Innenräumen. Es scheint aus heutiger Perspektive nur ein Frage der Zeit zu sein, bis Zitko auch in den unbegrenzten Außenraum vordringt.

Der Ausstieg aus dem Bild
Die Kritik am Illusionismus der Kunst und ihrer Repräsentationskonventionen bewirkte Mitte des 20. Jahrhunderts Entgrenzungstendenzen, die unter der Formel „Ausstieg aus dem Bild“ eidetisch zusammengefasst wurden. In „Combine Paintings“, „Shaped Canvases“ und „Specific Objects“ wurde der Objektstatus der Malerei thematisiert und seine Relation zum Realraum reflektiert. Dies hatte im Rückblick zur Folge, dass der Bildträger zunächst erweitert, beschädigt, zerstört oder negiert werden musste, um danach eine Ausdehnung , Überwindung und mediale Grenzüberschreitung zu erfahren. Otto Zitko war als Nachgeborener naturgemäß nicht unmittelbar an diesen Richtungskämpfen um potenzielle und zukunftsträchtige Ausdrucksformen beteiligt, hat aber viele dieser Problemstellungen für sein eigenes Schaffen reflektiert und individuell zu lösen gesucht. In seinen frühen Arbeiten, die großteils auf Papier entstanden, ist vor allem ein Problembewusstsein für den Bildträger, die Grenzen des Bildgevierts und seiner Fassung zu erkennen, die ihn zur sukzessiven Eliminierung des Glases, des Rahmens und schließlich zur Kaschierung des Papiers auf Holzplatten führte. Diese Bildtafeln wurden mit Kohle, Tusche und Farbe eruptiv bearbeitet und die papierne Oberfläche mit diversen Gegenständen aufgeritzt und aufgerissen. Parallel dazu reduzierte er seine Formensprache auf die Linie und seine Farbpalette auf die (Nicht)Farben Schwarz und Weiß. Er entwickelte eine gestische Malweise, die mit explosiver Wucht und konzeptueller Notwendigkeit sein Ausdruckswollen auf den Bildträger bannte, was einen festen Untergrund bedingte, der ihm den erforderlichen Widerstand beim Malen bot. Das Gewicht der Holzplatten limitierte ihn auf eine gewisse „handhabbare“ Größe, weshalb er um 1996 begann, auf Alutafeln zu arbeiten. Bereits 1990 realisierte Zitko eine erste Raumzeichnung für die Stichting de Appel in Amsterdam, die ihm eine neue raumzeitliche Dimension eröffnete, bei der sich der Betrachter im Kunstwerk findet und dieses ergehen und erschreiten muss.

Der Mensch ist das Maß
Bei fast allen Arbeiten scheint der Mensch der Maßstab für die entscheidenden Werkparameter zu sein. 1992 entsteht eine Serie von Bildern, die er Spirogramme nennt. Bei einer Lungenuntersuchung im Lainzer Krankenhaus sieht er das Diagramm seiner Atmung auf einem kleinen Monitor, das ihn in seiner Ästhetik an den Werkblock der Rußzeichnungen erinnert, den er gerade abgeschlossen hatte. Dabei hatte er Glasplatten über das offene Feuer gehalten und die Oberfläche mit Ruß geschwärzt. In diese schwarze Beschichtung hat er anschließend seine gestischen Lineamente eingezeichnet. Hinter das Glas wird die Holzplatte gelegt, auf die er zuvor das Papier hinaufgebügelt hat. Das mit Ruß bedeckte Rahmenglas wird zum autonomen Bildträger umfunktioniert, die Zeichnung wird ausgelöscht und durch den weißen Hintergrund als Linie erkenntlich. Es handelt sich um eine immaterielle Zeichnung, eine Hinterglasmalerei, die durch ihr gestalterisches Element Feuer eine symbolträchtige Aufladung erfahren könnte, doch im Wesentlichen eine Kohlezeichnung ex negativo ist.
Die Atemzeichnung, die durch das Ein- und Ausatmen auf dem Spirometer sichtbar wurde ähnelt diesen Rußzeichnungen in verblüffender Weise. Wieder hat er über eine Lichtquelle mit seinem Körper eine immaterielle  Zeichnung angefertigt, wobei die Spannweite des Atems der Spannweite des Arms vor der Bildtafel entspricht. Da es damals noch keine Möglichkeit gab, das Bild auszudrucken, fotografiert er den Bildschirm ab, wobei er drei verschiedene Belichtungszeiten wählt, um unterschiedliche Effekte die Leuchtkraft und Intensität der Kurven betreffend zu erzielen. In keiner anderen Arbeit ist zudem die zeitliche Dimension seiner Arbeit in vergleichbarer Weise manifest wie in den Spirogrammen, die sich als Kurven in einem Diagramm naturgemäß entlang der Zeitachse ausdehnen.
Da ihm die unmittelbare Berührung des Bildträgers von Anfang an sehr wichtig war, kann man seine Arbeiten durchaus als Extensionen des Körpers lesen. Dies betrifft auch die Wandmalereien, die er zu Beginn noch durch direkten Kontakt mit dem Mauerwerk auf Gerüsten und Leitern mühselig angefertigt hat. Mittlerweile arbeitet er mit Teleskopstangen und setzt die künstliche Armverlängerung auch für seine Bildtafeln gezielt als Möglichkeit der Distanzierung und zusätzlichen Abstrahierung ein. Der Mensch bleibt jedoch Maßstab für seine, raumgreifenden architektonischen Linienzeichnungen.
Es gibt Bildtafeln, die in die Raumzeichnungen integriert werden, die nicht deren Ausgangs- oder Endpunkt sind, aber integraler Bestandteil der jeweiligen Installation, wie die orangefarbenen Werke in der Ausstellung. Diese Werke sind als autonome Arbeiten zu sehen, die nach der Aufhebung des jeweiligen Kontextes jederzeit und überall ausgestellt werden können. Sie repräsentieren natürlich nicht die Installation an sich, zeugen jedoch von einem größeren Zusammenhang, indem sie die spezifische Spannung und Erfahrung, die seine Installationen ausmachen, destillieren.
Die Verwirrungen, denen Zitko seine Betrachter aussetzt, resultieren aus einer Reihe von Umschlageffekten, die der Künstler gezielt einsetzt. Er kreiert eine polyfokale Kunstwirklichkeit, die nicht auf den einen Blickpunkt festzulegen ist, der für die Monofokalität der Zentralperspektive verbindlich ist. Stattdessen muss der Betrachter immer wieder neu ansetzen beim „Lesen“ der Bilder, seinen Standpunkt verändern, sich vor und bei den raumgreifenden Arbeiten in den Bildern bewegen, diese gleichsam ergehen.

„Ich suche, während ich male.“
Zitkos Arbeiten sind von ständig wechselnden Konfigurationen geprägt, die gekritzelt, verschlungen, kreisförmig, zickzack, verdichtet und aufgelöst sein können. Er sucht die Unmittelbarkeit, die der Zeichnung per definitionem eingeschrieben ist, auf den Bildträger zu übersetzten. Dabei spinnt er ein beziehungsreiches zeichnerisches Geflecht, in das der den Betrachter verstrickt und förmlich hineinzieht. Aus dem Liniengewirr ergeben sich mitunter Assoziationen an anthropomorphe Formationen, die er akzentuiert und zu Gesichtern und Köpfen ausformuliert.
Otto Zitko arbeitet generell in Serien und sieht seine eigenen Arbeiten als Grafiken an. Die Zeichnung suggeriert einerseits eine Unmittelbarkeit des künstlerischen Ausdrucks, und andererseits weisen gerade die Raumzeichnungen ein planvolles Vorgehen auf, dass sich in bestimmten Perspektiven, Bezugnahmen auf den Betrachterstandpunkt und dem „Streben nach der Illusion von Zweidimensionalität auf Basis eines de facto dreidimensionalen Raumes“ (1) zeigt. Die expressive Geste erweist sich als zugleich so spontan und unmittelbar wie planvoll und konstruiert. Paul Cézanne hat diese duale Arbeitsweise treffend als Suche während des Malens beschrieben: „Je cherche en peignant.“ („Ich suche, während ich male.“)  (2)
Im Jahr 1990 wurde Jacques Derrida vom Louvre eingeladen, eine Ausstellung mit Werken aus dessen grafischer Sammlung zu konzipieren und zu kuratieren. In Anlehnung an das Konzept des concetto, der Definition der Zeichnung als unmittelbare Niederschrift, als erste direkte Ideenskizze, versuchte er sich an einer Beschreibung der Zeichnung als Prozess. Er schreibt davon, dass der Zeichner ein „lidloses Auge an der Spitze der Finger“ hat, das den Verlauf der Linien bestimmt, und von der Hand, die „vorausprescht“, sich „überstürzt“, „an Stelle des Kopfes, gleichsam um ihm vorauszugehen“. (3) Derrida suchte nach tragfähigen Metaphern, um die Wechselwirkung des Arbeitsprozesses zwischen dem Spontanen und dem Vorbedachten, dem Expressiven und dem Schematischen, dem Zufälligen und dem Kalkulierten zu finden. Und bereits Gotthold Ephraim Lessing hat in seinem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti den Maler Conti klagen lassen, dass er nicht „unmittelbar mit den Augen malen“ kann. „Auf dem langen Weg, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren!“ (4)

Tension
Eine Charakterisierung, die bei der Beschreibung von Zitkos Arbeiten immer wieder auftaucht, ist jene der Spannung. Die Spannung kann für sehr vieles stehen, bezeichnet aber im Wesentlichen eine interne Kraft, die sich einer (äußeren) Krafteinwirkung entgegenstellt, um ein Gleichgewicht zu erhalten.
Der Begriff der Spannung ist eng mit dem Moment der Zeit verknüpft. Nach der Relativitätstheorie bildet die Zeit mit dem Raum eine vierdimensionale Raumzeit, bei der die Gegenwart nur in einem einzigen Punkt definierbar ist. Der französische Philosoph Henri Bergson hat in seiner Abhandlung „Zeit und Freiheit“ (1889) dieser naturwissenschaftlichen Konstruktion das Konzept der Dauer entgegengesetzt und eine Differenzierung von Zeit, Dauer und Raum vorgeschlagen. Für ihn ist Zeit, wie sie sich unserer alltäglichen Wahrnehmung darbietet, wesentlich Raum, da wir von fertigen Handlungen ausgehen, deren Verlauf wir in der bereits abgelaufenen Zeit zu rekonstruieren versuchen. Damit ist der Vollzugs- und Kreativcharakter der Handlung verschwunden, und die Zeit, in der sich die Handlung vollzogen hat, nimmt raumartige Züge an. Wenn man der Tatsache gerecht werden könnte, dass sich jede freie Handlung in der ablaufenden Zeit vollzieht und nicht in der abgelaufenen, dann hebt sich die Zeit vom Raum ab. Diese ursprünglich erlebte Zeit, die Bergson „Dauer“ (durée) nennt, dehnt das Vergangene in das Gegenwärtige hinein und berührt das Zukünftige. Für Bergson ist der Moment der Gegenwart also nicht mehr ein Punkt in der Zeit, sondern eine Spannung, die sich am Übergang von Vergangenheit und Zukunft auftut. (5) Wenn man die Linie im Sinne der Bauhaus-Lehrer Paul Klee und Wassily Kandinsky nun als „Punkt, der sich in Bewegung versetzt” (Klee) versteht oder als „Spur des sich bewegenden Punktes” (Kandinsky), dann kommt man der Konzeption Bergsons und somit der malerischen Umsetzung Zitkos sehr nahe. Es ist dieser spezifische Moment der Spannung, der unmittelbaren Gegenwärtigkeit, der die Arbeiten von Otto Zitko kennzeichnet. Die Faktoren Bewegung und Beschleunigung, die sich in der dynamischen Linienführung manifestieren, provozieren ein Nachspüren und Reaktualisieren der malereiimmanenten Spannung und Wirkkräfte und damit auch eine Vergegenwärtigung der Zeit.

„What you see is what you see.“
Immer wieder ist versucht worden, sich den dynamischen Liniengeflechten von Zitko interpretatorisch zu nähern: man liest vom „Navigieren zwischen innerer und äußerer Welt“ (6), vom „Extrem-Subjektivismus“ (7) des Künstlers bis hin zu metaphysischen Deutungen im Kontext seiner installativen Liniensetzungen im Sakralraum (8). Das minimalistische „what you see is what you see“ Frank Stellas scheint den meisten Rezipienten seiner Werke oder abstrakter Arbeiten im Allgemeinen meist zu wenig zu sein, daher sei hier bezugnehmend auf die bereits erwähnte Ausstellung von Jaques Derrida im Louvre, bei der er den Zeichner als einen Blinden charakterisiert, der (nur) mit den Händen sieht, ein Ausschnitt aus Denis Diderots „Brief über die Blinden“ zitiert, in dem er mutmaßt, wie Blinde eine Idee von Formen und Figuren entwickeln. „Wenn er [der Blinde, Anm. d. Verf.] seine Finger an einem straffgespannten Faden entlanggleiten läßt, gewinnt er die Idee von einer geraden Linie. Folgt er der Krümmung eines losen Fadens, so gewinnt er die Idee von einer krummen Linie. Allgemeiner gesagt: er besitzt infolge wiederholter Erfahrungen des Tastsinns ein Gedächtnis für Empfindungen, die er an verschiedenen Punkten gehabt hat. Er ist fähig, diese Empfindungen zu kombinieren oder diese Punkte zu verbinden und dadurch Figuren zu bilden. Eine gerade Linie ist für einen Blinden, wenn er kein Mathematiker ist, nichts anderes als das Gedächtnis für eine Reihe von Empfindungen des Tastsinns in der Richtung eines gespannten Fadens; also ist für ihn eine krumme Linie das Gedächtnis für eine Reihe von Empfindungen des Tastsinns in bezug auf die Oberfläche irgendeines festen Körpers, eines konkaven oder konvexen.“ (9)
Was Diderot hier symbolisch zum Ausdruck bringt, ist, dass die Erfahrung des Künstlers, die Erinnerung an Empfindungen, sein Gedächtnis an zuvor geschaffene Bilder, sein Wissen um die Wirkkraft der Gesten natürlich die Genese jedes Werkes prägen. Es ist jedoch für das Verstehen der Arbeiten nicht notwendig, sich deshalb in die Biografie des Künstlers zu versteifen, denn wie Lessing schon vor rund 250 Jahren so treffend formuliert hat: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ (10)

 

Roman Grabner, 2015


(1) Tom Trevor, Me, Myself and I. In: Tom Trevor (Hg.), Otto Zitko. Me, Myself and I. Berlin 2011, S- 5-13, 5.

(2) Diesen Ausspruch notierte Maurice Denis 1906 in seinem Journal. Zit. Nach: Richard Shiff, Cézanne and the End of Impressionism. Chicago 1984, S. 222.

(3) Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen (1990). München 2008, S. 12.

(4) Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen (1772). Stuttgart 1997, Erster Aufzug, Vierter Auftritt.

(5) Vgl. Claudius Strube, Bergson, Henri Louis. In: Wulff D. Rehfus (Hg.), Handwörterbuch Philosophie. Stuttgart 2003.

(6) Tom Trevor, Me, Myself and I. In: Tom Trevor (Hg.), Otto Zitko. Me, Myself and I. Berlin 2011, S- 5-13, 8.

(7) Herbert Lachmayer, „Der lange Weg der Linie“. In: Otto Zitko. Ausst.-Kat. Cheim & Read. Wien 2000, o.P.

(8) Vgl. die Kapellengestaltung von Zitko in der Kirche St. Andrä in Graz.

(9) Denis Diderot, Brief über die Blinden, zum Gebrauch für die Sehenden (1749). In: Ders., Philosophische Schriften. Hg. Von Alexander Becker. Berlin 2013, S. 11-77, 23.

(10) Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). Stuttgart 2006, S. 23.

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Otto Zitko, Galerie Gölles, Foto: Anton Gölles