In der skulpturalen Kunst Jan FABREs nimmt die naturalistische Darstellung des Gehirns seit
Jahren einen zentralen Platz ein. Ob aus weißem Marmor oder aus Silicon, Holz und Farbe,
ob als klassische Bildhauerarbeit in Stein gemeißelt, oder in Kunststoff gegossen und einem
medizinischen Modell gleichend, das Gehirn repräsentiert jenen Teil eines Lebewesens, in dem
sich die wichtigsten Schaltzentren eines Körpers befinden. Erst ein Gehirn macht den Zugang
zur Welt möglich, jedes Gehirn ein Planet für sich.
Drei kleine Schildkröten, die ein riesiges menschliches Gehirn in Bewegung setzen wollen,
sich mit heraushängender Zunge plagen, um mit offensichtlich größter Kraftanstrengung
einen schwerfälligen Koloss aus dem Zustand absoluter Trägheit loszulösen, sind in einer der
drei unter dem Titel „Zeno Brains and Oracle Stones“ von Jan FABRE vereinten Skulpturen
dargestellt. Die ungeheure, jede menschliche Vorstellungsgabe übersteigende Schnelligkeit von
Vorgängen innerhalb des Gehirns und die sprichwörtliche Behäbigkeit von Schildkröten wird
von Fabre aufgenommen: humorvoll, symbolisch, zeichenhaft.
Rund 1300 Gramm wiegt das Gehirn eines erwachsenen Menschen. Rund 3,5 Tonnen wiegt
jedes der Zeno Brains, drei im Frühjahr und Sommer 2012 in Carrara entstandene
Marmorarbeiten, mit denen der Künstler aufs Neue eine geheimnisvolle Tour d´horizon
unternimmt. Wie frühere Gehirne bleiben auch FABRES neue Zeno Brains nicht ohne
Attribut: die Schildkröte. Seit Jahren taucht dieses Tier im Werk Jan FABREs auf. In der
Bildersprache der Mythen und Märchen ist die Schildkröte ein wichtiges Tier, das mit nichts
Geringerem als der Weltschöpfung selbst in Zusammenhang steht.
Diese Stärke der
Schildkröte scheint bei FABRE auf die Gebilde aus reinstem makellosem Marmor
übergegangen zu sein. Die walnussförmigen, gefurchten und vielfältig gewundenen, in zwei
Hemisphären geteilten Steinovale der Gehirne ruhen, sie thronen unerschütterlich auf ihren
Sockeln, als wüssten sie um ihre gewichtige Bedeutung. Im Weiß des Marmors werden
sowohl Gehirne wie Schildkröten überhöht, zu einer Balance zwischen Abstraktem und
Realem geführt. Mensch – das Gehirn – und Tier gehen eine ungeahnte Nähe ein, in der das
Tier zum eigentlichen Handlungsträger wird. Die Schildkröten geben vor, dass mit dem
passiven Koloss Gehirn etwas zu passieren habe, an ihm etwas vorzunehmen ist. Nicht die
kleinste Äderung, nicht der kleinste Schleier von Grau durchzieht das kristallklare Weiß. Die
Reinheit des weißen Gesteins wird zum Symbol einer übergeordneten Idee.
FABRE nennt seine Gehirne „Zeno brains“. Ein Spiel mit der eleatischen Philosophie aus dem
5. vorchristlichen Jahrhundert. Zeno von Elea hat sich vor 2500 Jahren einen intellektuellen
Störfall ausgedacht, der seither Philosophen und Mathematiker immer wieder beschäftigte.
Das Paradoxon des sogenannten „Achilleus“, ein apagogischer – also indirekter – Beweis
wurde von Zeno gegen die Kritiker der eleatischen Lehre, dass es nicht nur keine Vielheit,
sondern auch keine Bewegung gebe, ins Rennen geführt. Bei einem Wettlauf zwischen dem
schnellen Achill und einer langsamen Schildkröte, bei dem jener auch nur ein geringer
Vorsprung gewährt würde, könnte Achill das Tier niemals einholen. Denn sobald Achill einen
bestimmten Punkt erreicht hätte, an dem sich die Schildkröte unmittelbar zuvor befand, wäre
sie bereits – und sei es nur ein geringes Stückchen - schon weiter vorgerückt. Erreichte Achill
diesen Punkt, wäre die Schildkröte wiederum ein Stückchen weiter und so fort. Der
Vorsprung der Schildkröte kann zwar geringer, aber niemals eingeholt werden.
Mit der Darstellung einer Schildkröte und dem Wort „Zeno“ im Titel weist FABRE den Weg
auf eines der populären philosophischen Probleme und mathematischen Rätsel, seit 2400
Jahren bestehend und „Symbol“ dafür, dass das menschliche Denken mit seinem Drang nach
exakter Erkenntnis mit der Erfahrung des tatsächlich Erlebbaren und Erlebten nicht
übereinstimmt.
Neben den drei zentralen, 3,5 Tonnen schweren Zeno Brains, hat FABRE 13 weitere, weitaus
kleinere Marmorgehirne geschaffen. Klein und unscheinbar hausen auf diesen Gehirnen
Insekten und Schnecken und weisen auf einen kommenden materiellen Gestaltwandel hin.
Orakelsteine und Schildkröten als weissagende Tiere sind Vorläufer heutiger Think tanks, sie
sind Trendscouts und Zukunftsforscher einer anderen Zeit. Jan FABREs „Zeno Brains and
Oracle Stones“ sind Skulptur gewordene Zeichen für die Komplexität der Welt und
menschliche Selbstreflexion.
Titel: Turtle Brain
Jahr: 2012
Technik: Carraramarmor
Größe: 185l x 150w x 130h cm
Lóránd Hegyi
*1954 in Ungarn, lebt und arbeitet in Saint-Etienne
Lóránd Hegyi ist einer der führenden Kuratoren und Kunsthistoriker Europas und derzeitiger Direktor des Musée d'Art Moderne de Saint-Etienne Métropole. Von 1990–2001 war er Direktor des museums modernern kunst stiftung ludwig wien und künstlerischer Berater und späterer Direktor des PAN, Palazzo delle Arti Napoli in Neapel (2002–2006). Hegyi war weiters Co-Kurator der Biennale von Venedig 1993, künstlerischer Direktor der Skulpturen Triennale von Stuttgart 1995 und Kurator der Biennale von Valencia 2003. Neben seiner kuratorischen Tätigkeiten schrieb er zahlreiche Bücher und Artikel über zeitgenössische Kunst und Kulturkritik, soziale und politische Zusammenhänge des künstlerischen Schaffens in Zentral- und Osteuropa sowie über den Diskurs von Zentrum und Peripherie.
Titel: Brain with pushing Turtles
Jahr: 2012
Technik: Carraramarmor
Größe: 185l x 150w x 130h cm
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